von Yu Zimeng

„Die Realität ist, dass Hunde nicht weinen – doch folgt es der realistischen Logik. Deshalb lasse ich die Geschichten in einer schwebenden Zone zwischen dem Realen und Surrealen verharren.“ So definiert der chinesische Schriftsteller Zhou Yuyang seine literarische Ästhetik. Als Auftakt zum öffentlichen Lesergespräch führten wir am 18. Juni ein Interview mit Zhou Yuyang über seinen Erzählband „招摇过海 – Mit Getöse übers Meer“. Darin sprach Herr Zhou mit uns über die narrative Kraft phantastischer Literatur, das ewige Dilemma des Fluchtmotivs und darüber, wie das Schreiben zu einer Form des Widerstands gegen das Schicksal werden kann.

Ⅰ. Phantastische Elemente: Über der Realität, verwurzelt im Menschlichen

Nach Zhou Yuyang lassen sich phantastische Elemente als Destillationsapparat der Realität betrachten. Er verweist auf eine Kurzgeschichte von García Márquez, in der eine einsame Prostituierte ihrem Hund das Weinen beibringt, damit er nach ihrem Tod am Grab weinen kann. So legt das surreale Design die Essenz der Einsamkeit schärfer frei: In der Natur weinen nur die Menschen, aber die Geschichte lässt die Leser:innen die Einsamkeit der Protagonistin glauben – denn das menschliche Verlangen, erinnert zu werden, ist wahrhaftiger als physiologische Gesetze.

Der Phantastische Realismus durchzieht Zhous Werk. Die Verwandlungen, Prophezeiungen und übernatürlichen Szenen dienen nicht der bloßen Effekthascherei, sondern sind der Versuch, etwas in der Wirklichkeit nicht Darstellbares zu beschreiben. Natürlich stimmt die ursprüngliche Absicht des Autors nicht immer mit dem Verständnis der Leser:innen überein. Genau diese Abweichungen spiegeln wider, dass „das Werk wichtiger als der Autor ist“. Ein abgeschlossenes Werk entwickelt ein Eigenleben. Größere Interpretationsräume freuen Zhou: „Ich erhalte viele Kommentare von Leser:innen. Einige meinen, dass es in meinen Romanen nur um die Geschichte geht; andere sind der Meinung, dass es an lebendiger Handlung mangelt.“ Diese Widersprüche beweisen, dass der Text prismatisch wirkt.

Ⅱ. Flüchten oder nicht: Eine doppelte Variation über das Schicksal

Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Schicksal“ manifestiert sich in Zhous Texten in unterschiedlichen Symbolen wie beispielsweise in einer Armbanduhr („Es gibt eine Zeit im Schicksal“) und in einer Glaswand („Theorie der Degeneration“).

Das Ticken der Uhr sind die Schritte des herannahenden Todes. Zeit ist ein Konstrukt der menschlichen Schöpfung. Die Menschen der Antike lebten einst nach dem Rhythmus von Sonnenaufgang und -untergang. Erst später, um den Lauf der Zeit präzise zu quantifizieren, erschufen sie die Uhr, die den Zeitfluss in messbare Einheiten zerlegt. In der Erzählung „Es gibt eine Zeit im Schicksal“ wird die Uhr zum Symbol für die quantifizierte Vergänglichkeit des Lebens. Zhou Yuyang erläutert: „Der Umgang mit der Zeit ist wie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Die Uhr offenbart die menschliche Todesangst – jeder Tick, jede vergehende Sekunde, Minute und Stunde markiert den unaufhaltsamen Fluss des Lebens.“ Im Kern ist diese Angst eine Frage: Wie begegnet man der Unausweichlichkeit des Endes?

Die Handlung in „Theorie der Degeneration“, in der der Protagonist im Zoo Zuflucht sucht und sich in einen Vogel verwandelt, wird häufig als pessimistische Wendung von Flucht gelesen. Als ihm Flügel wachsen, hofft er auf eine neue Freiheit, frei von sozialen Bindungen – doch bald erkennt er, dass auch Flügel ihre Fesseln mit sich bringen. „Wahre Befreiung zu erlangen ist äußerst schwierig. Selbst wenn man sich von allen sozialen Zwängen löst, bleiben im Leben unvermeidbare Lasten, denen man nicht entkommen kann“, so Zhou. Flucht beginnt oft mit der Verweigerung der Realität, aber Flügel bedeuten nicht zwangsläufig Freiheit. Selbst wenn die soziale Identität zu schwinden scheint, bleibt sie und lastet weiter auf uns.

In Bezug auf den Schriftsteller und Illustrator Adrian Pourviseh hält Zhou fest: Ob die Verwandlung in Tiere in der chinesischen Literatur oder die Flucht über das Mittelmeer im Comic-Roman „Das Schimmern der See“ – die „Ausweglosigkeit“ führt die Themen zusammen. „Der Unterschied liegt darin“, ergänzt Zhou, „dass chinesische Autoren sich eher mit nach innen gekehrten, emotionalen Bedrängnissen beschäftigen, während globale Themen in internationalen Werken expliziter verhandelt werden.“

Ⅲ. Schreiben als Widerstand: Unendliches ins Endliche meißeln

Auf die Frage, ob das Schicksal auch die Flucht vor dem Schicksal beinhalte, antwortete Zhou Yuyang mit dialektischer Schärfe: „Ich glaube, dass das Schreiben selbst eine Schöpfung und Verwebung von Schicksal ist. Wenn wir etwas zu Papier bringen, wird es zu einer Bestimmung auf dem Blatt – und Literatur ist letztlich die Darstellung einer solchen Schicksalshaftigkeit.“ Je klarer die Vorsehung auf dem Papier steht, desto eher löst sich das Ohnmachtsgefühl der Realität auf.

Das Streben nach literarischem und ethischem Nachruhm ist die Rebellion gegen die biologische Vergänglichkeit: „Angenommen, dass der Schöpfer die Lebensspanne auf achtzig Jahre begrenzt – die Geschichte würde sich durch den Einzelnen nicht wesentlich verändern. Daher braucht der Mensch verschiedene Sinngebungen und Werte, um die Begrenztheit seines Lebens zu überwinden.“ Wie griechische Helden, die durch Epen unsterblich werden, dehnt die Erzählung die Zeit, obwohl der Tod der Endpunkt bleibt.

Der Titel seines Textes „Spuren großer Vögel im Schneematsch“ entspricht auch Zhous Deutung des literarischen Schicksals: Spuren werden verblassen, aber die Flugformationen werden durch das Erzählen verewigt.

Wir bedanken uns bei Zhou Yuyang für das spannende Interview und laden alle Interessierten herzlich zum Interkulturellen Lesergespräch am 1. Juli um 19:30 Uhr in der Galerie Alte Feuerwache (Ritterplan 4) ein, an dem wir das Gespräch gemeinsam mit Zhou Yuyang und Adrian Pourviseh fortsetzen.