Von Tang Fengyi
Mit einer zunehmend visuell und digital geprägten Alltagskultur verändert sich auch das Verständnis literarischer Ausdrucksformen. Das Zusammenspiel von Text, Bild, Symbolik und Komposition – kurz: Multimodalität – rückt verstärkt in den Fokus literarischer Produktion wie auch ihrer wissenschaftlichen Reflexion.
Vor diesem Hintergrund lädt die Abteilung Interkulturelle Germanistik den Graphic Novel Artist Adrian Pourviseh zu einem Workshop ein, der sich der intermedialen Umsetzung des Erzählbandes 招摇过海 (wörtlich: „mit Prunk und Pomp das Meer überqueren“, 2023) des chinesischen Autors Zhou Yuyang widmet. Im Zentrum steht dabei die kreative Überführung literarischer Texte in die visuelle Sprache des Comics.
Zhou Yuyangs Erzählungen zeichnen sich durch eine dichte symbolische Bildsprache, spannungsgeladene Erzählstrukturen und Figuren aus, die an der Grenze zwischen Realität und Imagination agieren. Eine grafische Umsetzung bedeutet in diesem Zusammenhang keineswegs eine bloße Bebilderung einzelner Szenen. Vielmehr geht es um einen schöpferischen Prozess, in dem Bedeutungen neu formuliert und Erzählweisen im Wechselspiel der Medien erweitert werden.
Die Grundlage dieser Transformation bildet ein zentraler Gedanke der multimodalen Literaturtheorie: Literarische Bedeutung entsteht nicht allein durch Sprache, sondern durch das Zusammenspiel verschiedener Zeichensysteme – darunter Text, Bild, Farbe, Komposition und Symbolik. Der Workshop bietet den Teilnehmenden die Möglichkeit, diese Prozesse sowohl theoretisch zu reflektieren als auch praktisch zu erproben.
Zu Beginn des Workshops erfolgt eine strukturierte Analyse zentraler Themen, Motive und erzählerischer Strategien in Zhou Yuyangs Erzählungen. Aufbauend darauf entwickeln die Teilnehmenden – angeleitet von Adrian Pourviseh – erste grafische Umsetzungsideen. Grundlage bildet sein fünfgliedriges Modell narrativer Comic-Strukturen: Moment, Rahmen, Bild, Wort und Flow.
Dabei gilt es, zentrale Herausforderungen zu bewältigen: Der lineare Zeitverlauf literarischer Texte muss in eine visuelle Erzählstruktur überführt werden, die simultane Perspektiven und Gleichzeitigkeit ermöglicht – ein zentrales Merkmal der Panel-Komposition. Ebenso bedarf es sensibler gestalterischer Entscheidungen, um die in den Texten vielfach vorhandenen Metaphern visuell umzusetzen. Sprachlich abstrakte Bilder werden durch Symbole, Allegorien oder verdichtete Szenen ins Visuelle übersetzt, um emotionale und atmosphärische Wirkungen zu erzeugen. Auch die Darstellung innerer Zustände verlangt nach mediengerechten Lösungen: Emotionen und psychische Spannungen werden im Comic nicht vorrangig sprachlich vermittelt, sondern durch Farbgebung, Linienführung, Körpersprache sowie räumliche Anordnung visualisiert – ein gestalterischer „emotionaler Flow“, der das narrative Erleben intensiviert.
Diese Form der intermedialen Übertragung ist somit mehr als ein Wechsel des Mediums – sie eröffnet neue ästhetische und semantische Zugänge zu literarischen Inhalten. Die Comic-Adaption wird zu einer eigenständigen künstlerischen Interpretation, die aufzeigt, wie Erzählungen durch mediale Umgestaltung neue Bedeutungsebenen gewinnen können.
Mit dem Wechsel des Mediums wandelt sich zugleich die Rolle der Rezipient:innen. Während sprachliche Systeme stark durch kulturelle Prägungen vermittelt sind, spricht die Kombination aus Bild, Farbe und Komposition unmittelbarere Wahrnehmungsebenen an. Rezipient:innen werden nicht nur zu Interpret:innen von Sprache, sondern zu aktiven Mitgestalter:innen einer multimedialen Bedeutungsstruktur. Das Lesen wird zu einem partizipativen Akt – Literatur wird gesehen, gespürt, assoziiert und gedeutet.
Gerade angesichts eines zunehmend bilddominierten Kommunikationsraums stellt sich die Frage nach neuen Formen literarischer Vermittlung. Wie lassen sich komplexe Inhalte für ein breiteres Publikum erschließen, ohne sie zu vereinfachen? Die Adaption von 招摇过海 bietet hier eine vielversprechende Perspektive: Intermedialität ist keine Reduktion, sondern Erweiterung. Sie eröffnet der Literatur neue Ausdrucksmöglichkeiten – im Dialog zwischen Text und Bild, zwischen Erzählung und Neuerzählung.
Zum Abschluss des Workshops präsentieren die Teilnehmenden ihre entstandenen Comic-Adaptionen und reflektieren gemeinsam die dabei getroffenen ästhetischen Entscheidungen und deren Wirkungspotenziale. Dabei zeigt sich in der Vielfalt der visuellen Umsetzungen eindrucksvoll, wie unterschiedlich die individuellen Perspektiven auf das literarische Ausgangsmaterial ausfallen können – ein lebendiger Beleg für die interpretative Offenheit literarischer Texte. Besonders bereichernd erweist sich in diesem Zusammenhang die enge Zusammenarbeit mit Adrian Pourviseh. Durch seine strukturierte Expertise und inspirierende Anleitung werden kreative Prozesse gezielt angeregt und zugleich ein Bewusstsein für die Möglichkeiten und Grenzen intermedialer Transformation geschaffen. Ein weiterer Höhepunkt des Workshops ist die Anwesenheit des Autors Zhou Yuyang, der den grafischen Interpretationen mit großer Offenheit und Neugier begegnet. Er würdigt ausdrücklich deren Eigenständigkeit und betrachtet die intermedialen Zugänge als bedeutungsvolle Erweiterung seiner literarischen Erzählungen. Seine positive Rückmeldung verdeutlicht, wie fruchtbar und erkenntnisreich intermediale Ansätze auch aus Sicht des Autors sein können.
Der Workshop schafft somit nicht nur eine künstlerisch anspruchsvolle und kollaborative Arbeitsatmosphäre, sondern auch ein wertschätzendes Forum literarischer Reflexion. Die visuelle Auseinandersetzung mit 招摇过海regt dazu an, die Grenzen literarischer Gattungen zu hinterfragen und lädt zu einer grundsätzlichen Überlegung ein: Ist Literatur auf Sprache beschränkt? Oder ist sie vielmehr ein offenes System, das sich im Wechselspiel verschiedener Zeichen entfaltet? Vielleicht liegt ihre Stärke gerade in dieser Offenheit – in ihrer Fähigkeit, sich wandeln zu können und dabei neue Formen ästhetischer Erfahrung hervorzubringen.