Von Miriam Schwarz
Am 27. Juni 2023 war Nora Gomringer zu Gast im diesjährigen Lesergespräch in der Galerie Alte Feuerwache. Nach kurzen einleitenden Worten des Galeristen Jörg Dreykluft und der Übersetzerin Karin Betz, die im Rahmen der Gastdozentur für literarisches Übersetzen die Übersetzungsarbeit der Studierenden begleitet hat, leiteten die Moderator*innen direkt in das Gespräch über.
Im Wechsel trugen Nora Gomringer ausgewählte Gedichte auf Deutsch und die Studierenden die Übersetzungen auf Chinesisch eindrucksvoll vor. Auch zwei Gedichte der chinesischen Lyrikerinnen Yu Yoyo (馀幼幼) und Wu Ang (巫昂) wurden im chinesischen Original sowie in ihrer deutschen Übersetzung präsentiert. Dieses Wechselspiel bot reichlich Raum für interkulturelle Gespräche zwischen Nora Gomringer, den Übersetzer*innen und den Zuhörer*innen.
Zum Thema Körperbeete
Einen thematischen Schwerpunkt der ausgewählten Gedichte und Diskussionen bildete unter anderem der (weibliche) Körper sowie dessen Begrenztheit und Verfall, aber auch dessen Potenzial für Wachstum, beispielsweise durch die Ausweitung und Verschmelzung des eigenen Körpers mit der Natur. Besonders deutlich ist diese Thematik in Herz erkennbar, das als erstes Gedicht des Abends vorgelesen wurde. Nora Gomringer reflektiert in diesem Gedicht die Herztransplantation einer Jugendfreundin und deren darauffolgendes Aufblühen zu neuem Leben. Das Herz ist für sie in zwei Kontexten zu sehen. Einerseits fungiert es warm und organisch als Samen, der in das „Brustbeet“ gepflanzt wird und aus dem neues Leben wächst, andererseits reflektiert sie den kalten und mechanischen Kontext der Medizin. Als Metapher für das sukzessive Freilegen des Herzens während der Transplantationsoperation wählt sie das Bild der Artischocke. Für die Übersetzung stellt diese Metapher eine Herausforderung dar, da die Artischocke in China kein gängiges Lebensmittel ist. In dem Gespräch zeigte sich außerdem, dass das Motiv der Herztransplantation eine lange und kulturübergreifende literarische Tradition hat.
Pilzsuppe (蘑菇汤) von Yu Yoyo beschreibt eine ähnliche Thematik. Auch hier weitet sich der Körper in die Natur aus, um den eigenen Grenzen zu entkommen und Trauer und Schmerz zu bewältigen. Nora Gomringer erkannte in der Metapher des Pilzes die menschliche Fähigkeit zur Autophagie, der menschlichen Fähigkeit, aus sich selbst heraus zu heilen.
Naturgedicht beschreibt Gomringer als moderne Naturlyrik und bewusste Provokation. Im Gespräch erläuterte sie, wie viele Gedanken und Überlegungen hinter den Themen ihrer Gedichte stehen, bevor sie diese in ihre lyrische Form bringen kann. Bewusst sind in Naturgedicht englische Verszeilen gesetzt. Das Code-Switching im Original wurde von den Studierenden jedoch nicht beibehalten und stattdessen einheitlich ins Chinesische übersetzt, was dem Gedicht das von der Autorin intendierte Fremdheitsgefühl nimmt und es direkter macht.
Als chinesisches Gegenstück wurde das Gedicht Brüste (乳房) von Wu Ang vorgetragen. Beide Gedichte thematisieren indirekt den Fremdgebrauch des weiblichen Körpers als Austragungsort politischer und gesellschaftlicher Debatten, was sich heutzutage besonders in den Diskursen um Feminismus, Sexualität und Geschlechtsidentität zeigt.
Formale Zwischentöne
In den beiden abschließenden Gedichten Hab vergessen und Daheim sind es vor allem die formalen Besonderheiten, die herausstechen. Hab vergessen thematisiert Demenz, die im Zerfall der Sprache und Blitzlichtern der Erinnerung formal widergespiegelt wird. Für die Übersetzung muss neben der Beibehaltung dieser formalen Stilelemente auch ein chinesisches Äquivalent zu „Arnika“ gefunden werden, das als typischer Geruch in Krankenhäusern und Seniorenheimen als Sinnträger für Krankheit, Heilung und Pflege steht.
Für Daheim ließ Nora Gomringer sich vom Lateinischen inspirieren, das in seiner Hochphase keine Abstände zwischen den Wörtern macht. Durch diese Form soll zunächst die ernste Thematik des Gedichts verschleiert und ein schnelles Vortragstempo vorgegeben werden, verstärkt durch ein nicht nur rythmisches „und“ zwischen den Sinneinheiten. Da es im Chinesischen generell keine Abstände zwischen den Wörtern gibt, mussten die Studierenden die Dringlichkeit des Gedichts mit anderen Mitteln in der Übersetzung erhalten, wie beispielsweise durch das Weglassen des Wortes „und“.
Das interkulturelle Potenzial
Das Gespräch mit Nora Gomringer hat gezeigt, worin die Chancen und Schwierigkeiten der Übersetzungsarbeit sowie das Potenzial des interkulturellen Austauschs liegen. So wurden beispielsweise Gemeinsamkeiten in den literarisch behandelten Themen entdeckt, die in ihre jeweiligen kulturellen Kontexte eingebettet sind und entsprechend unterschiedlich gedeutet werden. Durch den interkulturellen Austausch können die bisher bekannten Kontexte erweitert werden und die besprochenen Texte neues Deutungspotenzial entwickeln. Gezeigt hat sich das beispielsweise in Pilzsuppe am Bild des Pilzes, der in China neben seiner Funktion als Nahrungsmittel auch medizinal angewendet wird, oder an der Übersetzung von kulturellen Entsprechungen bestimmter Konzepte wie für Arnika in Hab vergessen. Nora Gomringer, die als Direktorin des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg mit interkulturellem Austausch wohlvertraut ist, zeigte sich diesen durch Kulturunterschiede bedingten Sinnerweiterungen offen und interessiert. Zwar erzählte sie auch von weniger gelungenen Übersetzungen ihrer Gedichte und Einschränkungen durch gesellschaftliche oder politische Zensur, dennoch wurde in den Gesprächen deutlich, dass sie das Übersetzen vor allem als Chance sieht und dadurch als Autorin rückwirkend selbst bereichert wird. Der Blick aus der fremden Perspektive erlaubt es ihr, nicht nur ihre Texte, sondern auch sich selbst neu zu entdecken und kennenzulernen.