Ein Gespräch mit der chinesischen Gegenwartsautorin Zhu Jing am 10. Juni 2022

von Mario May

Der Beginn des literarischen Schaffens der 1982 in der ostchinesischen Provinz Jiangsu geborenen Autorin 朱婧 Zhu Jing im Jahr 2003 fällt mit einem Boom der Internetliteratur in China zusammen. Literarische Zeitschriften wie z.B. 青春 (qing chun/Youth) erhielten mit der Veröffentlichung über Social-Media-Plattformen allen voran WeChat breitenwirksame öffentliche Aufmerksamkeit und sprechen heute ganz verschiedene Zielgruppen an. Auch Zhu Jing, die inmitten der blühenden und nicht nur für den chinesischen Sprachraum bedeutenden Literaturszene Nanjings steht, schreibt für verschiedene Zeitschriften und weist diesen eine bedeutende Rolle für ihr Schaffen zu.

Wir treffen Zhu Jing in einem Café in der Nähe des Xianlin Campus der Universität Nanjing (NJU). Studierende des German Departments der NJU heißen sie willkommen, aus Göttingen sind die Kommiliton:innen per Videokonferenz zugeschaltet. In unserem ca. 90minütigen Gespräch spricht die Autorin unter anderem über den Einfluss des traditionsreichen Literaturbetriebs in Nanjing. Hochschulen, aber auch Buchhandlungen (am bekanntestes ist wohl Librairie Avant-Garde) würden die einzigartige Atmosphäre des aktiven literarischen Schaffens in der „Südlichen Hauptstadt“ unterstützen. Literaten würden mit verschiedenen Wettbewerben und Preisen in Nanjing gezielt gefördert. „Der dynamische Literaturbetrieb in Nanjing wirkt sich auch auf meine persönlichen Erfahrungen aus und findet Eingang in mein Schreiben“, meint die Autorin.Zhu Jing ist mit zahlreichen Kurzgeschichten und Romanen nicht nur als Schriftstellerin bekannt, sondern darüber hinaus auch als Literaturkritikerin. In unterschiedlichen Publikationen und Zeitschriften veröffentlichte sie Kritiken zu einer Vielzahl verschiedener literarischer Werke. Das Selbstverständnis als Schriftstellerin und gleichzeitg als Kritikerin würden in ihr immer zusammenspielen und sich gegenseitig beeinflussen: „Manchmal muss ich aktiv zwischen einer der Identitäten wählen, eine davon ein- oder ausschalten“. Für Zhu Jing bleibt das Schreiben nicht von der Kritik getrennt. In ihrem Schaffen treibt sie auch die Frage um, wie die Leser*innen und sie selbst Literatur rezensieren. Der Schreibstil in zeitgenössischen literarischen Werken, auch von japanischen und koreanischen Autor:innen, habe zudem auf ihren eigenen Stil einen großen Einfluss. Dennoch möchte Zhu Jing einen eigenen Weg zum Schreiben finden.

Neben ihrer literarischen Tätigkeit lehrt Zhu Jing derzeit literarisches Schreiben und Literaturkritik an der School of Chinese Language and Literature der Nanjing Normal University. „Diese Arbeit bereichert und inspiriert mein Schreiben ungemein“, meint die Autorin. Lehre, Forschung und Schreibpraxis würden zusammenwirken. In ihrer Auseinandersetzung mit anderen Autor*innen und den Ideen ihrer Studierenden fände sie viele Anregungen.In Zhu Jings Texten spielen besonders Frauenfiguren zentrale Rollen. Der Autorin ist wichtig, Empathie mit diesen Frauen zu zeigen. „Autoren schreiben oft über ‚große Geschichten‘, aber die Stärke von Autorinnen liegt mehr in der Liebe zum Detail, der genauen Beschreibung von Emotionen und Körperlichkeit. Schlussendlich geht es aber nicht darum, was man schreibt, sondern wie man schreibt. Wichtig ist das Ziel, welches man mit dem Schreiben einer Szene verfolgt“. Das Ziel bei Zhu Jings Texten scheint ganz deutlich. Den unscheinbaren und vermeintlich unspektakulären Frauenfiguren des Alltagslebens eine Stimme geben, sie zum Sprechen bringen und zeigen, dass sie inspirierende Geschichten zu erzählen haben. Dafür bieten Zhu Jings Texte einen Raum.

Ihre Inspiration greift Zhu Jing unmittelbar aus der Realität, aus ihren eigenen Erfahrungen als Frau und den Erfahrungen ihrer Mutter: „Frauen müssen in unterschiedlichen Lebensphasen, immer wieder neue Rollen einnehmen.“ Die Coming-of-Age-Geschichten von Zhu Jing zeigen Frauenfiguren in eben diesen verschiedenen Rollen, legen Konflikte zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und persönlichem Verwirklichungsstreben offen und nehmen nicht zuletzt den Rezipienten in die Pflicht, andere verstehen zu lernen.