Das Gesicht Chiang Kai-sheks wird monatlich im Jiangnan-Theater in Nanjing aufgeführt. Am 14. und 15. Mai 2021 findet das Stück endlich seinen Weg auf die Bühne des Suzhou Grand Bay Theatre. Wir haben das Publikum vor Ort interviewt und nach den Erwartungen und Überlegungen vor und nach der Aufführung gefragt.

Von einer Seminararbeit zum Dauerbrenner der Schauspielhäuser

Schon seit der Premiere 2011 – damals noch im universitären Rahmen – findet Das Gesicht Chiang Kai-sheks breiten Anklang nicht nur unter Expert:innen, sondern auch unter ,Theater-Laien‘. So sagten die meisten Interviewten, dass sie den Titel des Stücks und dessen Resonanz bereits mehrfach gehört hätten, sei es über die Chat-Plattformen Weibo, WeChat oder durch den Familien- und Freundeskreis. Deshalb waren viele Besucher vorab über die wesentliche Handlung des Bühnenspiels informiert. Dem Gros der Interviewpartner:innen war entsprechend längst bekannt, es gehe vordergründig um die Einladung des Präsidenten Chiang Kai-shek und die darauffolgende (Ketten-)Reaktion der drei eingeladenen Professoren.
Wen Fangyi, die damals noch als studentische Autorin mit ihrem Kunstwerk von sich reden machte, ist heute in Zeitungen und Online-Nachrichten ebenfalls eine viel rezensierte Autorin. Es sei erstaunlich und fast nicht zu glauben, dass dieses Stück „ursprünglich eine Seminararbeit war“, fingen wir aus einem Kommentar ein.

Das geht auf: Gefeierter Kunstgriff des Arrangements

Die meisten Interviewten zeigten sich von der Kombination des einerseits spannenden Themas und der andererseits besonderen Werkgattung begeistert. Die Kopplung von historischen Gegebenheiten im Ausnahmezustand des Krieges an die Umbruchswirren der Kulturrevolution sei der Gattung Komödie äußerst angemessen, so viele der Zuschauenden. „Wie solch ein ernsthaftes oder fast tragisches Thema in Form der Komödie humoristisch und daher fast noch tragischer dargestellt wird, das finde ich besonders spannend.“

Das Gesicht Chiang Kai-sheks ist indes nicht die einzige Bühnenumsetzung über Intellektuelle in einem aufwühlenden historischen Kontext, das in den vergangenen Jahren entstanden ist und enorme Resonanz beim chinesischen Publikum fand und nach wie vor findet. Ein Teil des Auditoriums assoziierte damit zahlreiche weitere Werke oder Theaterstücke, wie beispielsweise die Bühnendichtungen Vier Antwortbogen (四张机 Si Zhang Ji), Liebe und Tschechow (恋爱吧,契诃夫!Lian ai ba, Tschechow! ), die TV-Serie Zeitalter des Erwachens (觉醒年代,Jue Xing Nian Dai) sowie die Novelle Dem 4. Mai (五四遗事,Wu Si Yi Shi ).

Die überwiegende Tendenz der Rezensionen wird klar, wenn wir hören:

„Wenn es um Chiang Kai-shek geht, sollte es spannend sein.“

Aber es gab auch große Neugier und Erwartung hinsichtlich der Umsetzung:

„Ich bin gespannt, wie aus solch einem politischen Thema eine Komödie gemacht werden kann. Ich freue mich sehr auf die Inszenierungen in der Komödie.“

Wiederholungsgäste zeigen sich verzaubert:

„Zunächst habe ich mir das Stück im Haidian Theater in Peking angesehen. Nachdem ich mir Vier Antwortbogen in Shanghai angeschaut hatte, wollte ich Das Gesicht von Chiang Kai-shek unbedingt noch einmal sehen und fuhr sofort von Shanghai nach Suzhou.“

Ein Tanz in Fesseln?

Im Anschluss an die Aufführung führten wir erneut Interviews mit dem Publikum durch. Wie würde jetzt wohl das Meinungsbild ausfallen? Ganz überwiegend wurde das Schauspiel positiv bewertet. Wie bereits beschrieben entsprang die Aufführung der ,Hausaufgabe‘ einer Studentin. Mit Blick darauf bezeichnete ein Theater-Insider die Vorführung als „Tanz in Fesseln“, aber nichtsdestoweniger sei es „ein guter Tanz“. Die Diskussionen über Politik, Geschichte und Philosophie seien gut miteinander in diesem Bühnenwerk verwoben worden. Auf der anderen Seite war das Tempo der Handlung einigen Zuschauenden ein wenig zu langsam. „Das ganze Theaterstück ist durch Dialoge aufgefüllt. Manchmal dauert es sehr lange, bis es zum nächsten Höhepunkt kommt.“, wie eine Schauspiellehrerin für uns zusammenfasst.

Sprachschatz-Kaleidoskop trifft auf die Urform der Oper

Wenn es um die Wahl und Umsetzung der Sprache in Das Gesicht Chiang Kai-sheks geht, blicken die meisten Besucher mit einem zustimmenden Nicken zurück. Die Dialoge seien sehr schön formuliert, und das in einem traditionellen chinesischen Stil: „Ich liebe die Sprache dieses Stücks“, schwärmte eine Studentin im Studienfach Sinologie. Neben der Sprache werden auch viele „chinesische Elemente“ in der Darbietung eingebaut, z. B. die tradierte Kunqu-Oper, eine der ältesten Bühnenkunstformen weltweit. Andererseits räumten einige Zuschauende ein, dass sie manche stilistisch gehobenen Worte nicht wirklich gut verstanden hätten. Darüber hinaus warf eine Besucherin ein, dass dieses Bühnenspiel den Zuschauenden ein weites Wissensspektrum über chinesische Kultur abverlange, um das Werk vollständig erschließen zu können. Eine weitere Sinologiestudentin gab an, dass speziell die Kunqu-Oper es ihr wirklich sehr angetan habe. Hingegen räumte ein anderer Zuschauer offen ein, die Platzierung der Oper nicht verstanden zu haben.

… trifft auf Marx und Engels

Dementsprechend ist fraglos möglich, dass jene Tragikomödie bei unterschiedlichen Gruppen auch verschiedene Effekte hervorruft. Zum Beispiel der Handlungsstrang zu „Liu Hua Chun“ (六华春), einem traditionellen Restaurant in Nanjing, hat eine Nanjingerin überaus angesprochen. Jedoch konnte ein anderer Zuschauer, der Nanjing nicht kannte, keinen Bezug zu dieser Lokalanleihe herstellen. Neben dem kulturellen Hintergrundwissen spielen philosophische Gedanken gleichfalls eine Rolle, denn jene laden das Werk mit zusätzlicher Komplexität auf und knüpfen an Vorwissen an; ein Kenner marxistischer Schriften hat es eindeutig leichter.

Und „später […] wird er lebensnah“

Was die drei Hauptfiguren allerdings angeht, befand das Publikum diese ausnahmslos als sehr gelungen porträtiert. Die beliebteste Figur ist eindeutig Xia Xiaoshan, gefolgt von Bian Congzhou. Professor Xia Xiaoshans Charakterbild ist relativ hell und lustig, er ist ein typischer ,Foodie‘ – naiv und niedlich – so dass ebenderselbe viel Sympathie bei den Zuschauenden ,einheimsen‘ konnte. Indessen gründet sich die Zuneigung für Bian Congzhou auf den Zuspruch der Zuschauer gegenüber dessen Ansichten. Er symbolisiert die Regierung Chiangs, sinnbildlich komme dies zumal dann zum Ausdruck, wenn er schlussfolgert: „China ist doch China. Zu viel Freiheit macht unsicher.”(中国有中国的国情,自由太多了不见得是好事.) Viele würdigen Xiaoshan – die ,Naschkatze‘ – als spaßhaften und lebendigen, der Handlung einen gewissen Pfiff verleihenden Charakter: „Zu Beginn finde ich die Figur zu pedantisch, aber später glaube ich, wird er lebensnah.“

Ein Lieblingszitat aus dem Stück:

„Das Leben ist einfach unerträglich!“
“这个日子真是没法过了!”