Reflexionen von Robin A. Schmidt

Es gibt Bilder, die mögen uns ein Leben lang begleiten. Ganz gleich, wie viel Zeit unterdessen vorübergezogen ist, wir blicken dankbar und wie verzaubert auf so manche Orte und Begebenheiten zurück, immer dann, wenn wir sie erneut hervorholen. Man spricht davon, sich etwas ins Gedächtnis zu rufen, oder rufen die Erinnerungen uns, fordern sich ein, weil sie durch unser Erinnern überhaupt erst zu Wirklichkeit gelangen? Direkt zu Beginn der Vortragsreise machen wir einen kleinen Sprung in die Vergangenheit: Frau Betz versetzt uns in ihre Studienzeit nach Chengdu im Südwesten Chinas zurück, wo ihr eine ganz besondere Entdeckung zu Teil wurde. Es ist die Rede von der berühmten chinesischen Gastfreundschaft. Der Entdeckung derselben ging die Suche voran, und zwar nach einem passenden, „etwas interessanteren“ Kalligrafie-Lehrer. Gesucht und gefunden. Unterrichtet in dessen privatem Haus hat Karin Betz später „neben den Künsten der Kalligrafie, verschiedenen Schreibstilen und Epochen und sehr viel chinesischer Lyrik auch sehr viel über das chinesische Essen gelernt, ganz nebenbei.“ Denn die Lerneinheiten führten, da sie über den Tag verteilt lagen, auch immer wieder beim Essen und Trinken zusammen. Man nimmt den anderen auf, man hat Zeit für ihn, man möchte erfahren, mit wem man es denn zu tun habe, vielleicht in der Ahnung, ein Stück von sich selbst zu treffen.

Aus gutem Grund folgt uns die Kulinarik auch an dieser Stelle nach, wie die Dichterin und Übersetzerin Nora Iuga in ihrem Aufsatz Zwischen Linguistik und Gastronomie 2012 zu verstehen gibt, wenn sie auf die Wortherkunft des lateinischen lingua, gleichermaßen als „Zunge“ oder „Sprache“ übersetzbar, hinweist. „Du übersetzt, als würdest du mit einem Freund in gemeinsamen Erinnerungen schwelgen, du hast vor Augen die Orte und Erlebnisse des Autors, denn sie waren dir in gleichem Maße zugehörig.“ Und dies verblüffender Weise nicht nur am Handlungsort China in der Jin-Dynastie vor bald 900 Jahren, der der 1925 geborene Jin Yong ebenfalls nicht angehörte, zumindest nicht als Zeitzeuge. Vielmehr werden Werte herausgekehrt und allgemeingültig weitergegeben, an denen sich – wie es markant bei der Gastfreundschaft der Fall ist – der Reisende lange erfreuen darf, in dem Maße, dass es sich dessen zu erinnern und im Gestöber der Archive autopoesieartig überlieferter Dokumente zu (rück-)berichten lohnt: Eine Fortführung zur Reise geteilter Erlebnisse.Aber was bedeutet das für unseren Roman? Frau Betz hat uns Auszüge mitgebracht. Sogleich tritt unser Protagonist Guo Jing (bereits gut bekannt aus Teil 1 Die Legende der Adlerkrieger) auf den Tagesplan, doch was dieser sich nun anrichten lässt, wird der Leserschaft aller Wahrscheinlichkeit nach, diesem aber ganz sicher lange nachhallen. Mit einem Freifahrtschein ausgestattet fährt dessen Begleiter Huang Rong dem Gastgeber sogleich in die Parade, als beide gemeinsam ein Restaurant besuchen und ihre Wünsche aufgeben, schließlich hat ,er‘ seinen eigenen Festzug mit exquisiter Marschroute bereits mitgebracht und legt schon kräftig drauf los:

„Lasst das Fleisch, zunächst nehmen wir etwas Obst.“

„Ob wir wohl an süßsauren Früchten fermentierte Duftkirschen und mit Ingwerstreifen eingelegte Pflaumen haben könnten? Und mit Honig Kandiertes habt ihr auch? Dann gerne Kumquats mit Rosenblättern, Hochzeitstrauben, geschnittene Pfirsiche und Birne nach Art des Edelmanns.“

Denn ein Held versteht sich nicht nur bestens auf das Anwenden einer Vielzahl von Techniken bzw. spielt keinesfalls bloß körperliche Überlegenheit aus; taktisches Kalkül oder auch eine angemessene Portion Finesse gehören ebenso zum Repertoire. Wer könnte ihm diese Fähigkeiten besser lehren als die aufgeweckte Huang Rong, die eigentlich ein den Eltern davongelaufenes Mädchen aus gutem Hause ist? Aber als Junge lässt es sich sicherer reisen. Allein die Auswahl der Speisen zeigt einen bedeutsamen Distinktionsmarker der Figuren an: Das gehaltene Versprechen jedenfalls brachte nicht nur eine lange Rechnung mit sich, es legte den Grundstein für eine Freundschaft und ein ungeahntes Mentorenverhältnis zur Finten- und Lebenskunst. Insofern ein unschätzbar wertvolles Investment, welches seinen eigentlichen Anfang in der vielleicht zunächst etwas naiven, aber dennoch ,herzhaften‘ Gönnerschaft zu Tisch genommen hat.

Fremdsprachen sind für uns zu entdecken als ein eigenes Fenster zur Wahrheit. Das Wort steht nicht als konzentrierter Außenseiter, gesucht ist nicht die Eins-zu-eins-Übertragung. Der Kunstgriff stellt jedes Wort in direkte Resonanz mit dem Kontext und gibt diesen wieder. Es besteht eindeutig die Möglichkeit, vermöge des fremden Ausgangstextes auf Schatzsuche zu gehen, wodurch Entsprechungen herstellbar sind, die, weil sie zwar in unseren Sprachbegrifflichkeiten so nicht fixiert sein mögen, die wir uns dennoch zu eigen und bewusst machen können. Damit können wir sie in der vermittelten Erkenntnis vor uns und anderen aussprechbar machen, um Wesentliches in der Deutung zu berühren – wie anders sollten wir uns sonst zu ihrer Korrespondenz hingezogen fühlen können? Essen hält den Kanal geöffnet – es ist im mehrfachen Sinne überlebensnotwendig, denn die Figuren inkorporieren ein Stück Lebenswirklichkeit und Historie, werden wechselseitig nahbar, stellen Bezüge her, nehmen und geben.

In der Übersetzungsarbeit sei es daher regelmäßig relevant, Erlebtes aus den unterschiedlichsten Bereichen auch einzubringen. Sinnliche Erfahrungen, die Aromen hinter den Worthülsen, spiegeln sich nach Karin Betz in allen Lebensbereichen wider, denn wir bringen als Leserschaft aus dem Hintergrund einer gesamten Biografie unserer Person etwas ein, wir nehmen uns ebenfalls mit, machen Angebote im Text ausfindig, welche vermöge der Übersetzung wiederum überhaupt erst Gelegenheit zur Anknüpfung vermitteln: „Der Autor nimmt die Leserschaft mit, der Übersetzer darf hier nicht im Wege stehen, Jin Yong auf Deutsch lesen zu können.“ Wie intensiv und umfassend wir einen Prozess nachempfinden wollen, wie tief wir schürfen möchten, steht allerdings dann in Abhängigkeit der Leserschaft oder anders gesagt, diese entscheidet individuell, was sie in einen Wert umschmieden möchte.

Immer wieder klingt daher durch, Speisen werden nicht nur eingenommen, die an ihnen beteiligten Menschen kreieren Momente mit deren Hilfe und weben deren Geschichten in Abgleich mit der eigenen Erinnerung fort. Selbst verfehdete Meister des Kung-Fu teilen vor ihrem Kampf auf Leben und Tod den Opferkessel gefüllt mit Schnaps, womit sie besiegeln, dasselbe Los gezogen zu haben und sich gegenseitig in ihrer Lage anzuerkennen. Ein reichlich rabiater Umtrunk, möchte man sofort meinen, wenn das Becken gewaltsam wie ein Wurfgeschoss von Hand zu Hand schnellt, aber auch hier vermitteln die von Karin Betz gelesenen Zeilen, es wird eine ehrerbietige Tradition geteilt: Jeder weiß vollkommen, worauf er sich einlässt. Allein der Kesselabtausch wird dem eigentlichen Schlagabtausch vorangestellt als künstlerisch-anspruchsvolle Darbietung inszeniert.

Erneut legt sich dar, es würde in der nahtlosen Übertragung nicht funktionieren, Worte an Worte zu kleben, d.h. das Schriftzeichen lediglich zu verdeutschen: „Wenn es dem Kontext zuarbeitet, darf es auch ruhig mal blumig und dick aufgetragen klingen.“ Die Machart des Romans trägt diesem Phänomen allemal Rechnung bzw. verlangt sogar danach, denn „Ästhetik wird bewusst im Roman thematisiert“, so beschreibt es uns Karin Betz weiter.

An dieser Stelle lohnt es sich, den Bogen zur Kalligrafie zurückzuschlagen, denn diese erhellt so manches über die Gestimmtheit der je einschlägigen Situation – es ist nicht nur schön zu betrachten, vielmehr bespielt sie die Themen zwischen den Zeilen und darunter. Entsprechend ist es der Kalligrafie anzusehen, „warum der Verfasser traurig war […]“, sie lädt grundsätzlich ein, „über den Text viel mitzubekommen, wenn man das möchte, ohne viel über Kalligrafie wissen zu müssen.“

Wir lassen uns auf einen ungewohnten Kreis ein, wir werden in diesen hineingezogen, ohne uns dabei zu verlieren, wir dürfen uns natürlicherweise bewahren, da wir einer ja Einladung folgen, wobei wir im Zurückblicken manchmal feststellen, Teile von uns ausgetauscht oder um etwas ergänzt zu haben.

Passenderweise zeigt das Schriftzeichen 客 (kè), also zu Deutsch „Gast“, gut sichtbar einen Menschen, welcher unter einem Dach sitzt, gebeugt über eine Schüssel Reis. Hier laufen Schutzunterkunft und Nahrung, beides absolute Grundbedürfnisse nahezu aller Lebewesen zusammen, die das Empfangen ganz buchstäblich doppelläufig an eine völlige Selbstverständlichkeit koppeln. Gast und Gastgeber konstituieren in dieser Symbolik eine Einheit, obwohl nur eine Person abgebildet ist, vereint diese dennoch den Inbegriff all dessen, was es Wortverwandtes zu fassen und zu verinnerlichen gibt: Das Fremde gibt dem Neuen die Hand und das ist dann das wirklich Neue.

Wir bedanken uns wieder ganz herzlich, liebe Frau Betz, für Ihre Zeit und die wunderbare Fortführung der großen chinesischen Wuxia-Reihe. Wir würden uns sehr wünschen, im kommenden Jahr am Abschluss Ihres Projektes teilhaben zu dürfen. Ihnen alles Gute weiterhin!